10 Jahre Sommermärchen
Das Gute im Leben ist, dass man nicht weiß, was vor einem liegt. Dass sich das Schicksal nicht in die Karten schauen lässt. Und dass man keine Ahnung hat, wie viele Tränen man noch weinen wird.
In diesem Jahr feiert das Sommermärchen seinen zehnten Geburtstag, initiiert von einem Mann, der nicht nur eine Fussball-Ikone ist, sondern auch eine Golf-Ikone: Franz Beckenbauer. Als im Deutschland von 2006 an nahezu jedem Auto eine Deutschlandfahne, ein Deutschland-Aufkleber oder ein Deutschland-Rückspiegelschoner zu sehen war; als es menschenleer wurde auf den Straßen, egal wer spielte; als Jubelrufe aus geöffneten Wohnzimmerfenstern in den blauen Himmel stiegen, schien seine Unsterblichkeit gesichert. Zehn Jahre später ist nichts mehr, wie es war. Der Kaiser wurde zum Kaiser ohne Kleider.
Zurück zum Jahr 2006.
Ich war in New York, für sechs wunderbare Wochen: Sprachkurs. Fussball war mir zum ersten Mal im Leben weitgehend egal. Wenn mich Katrin nicht ständig angerufen hätte, um mir von diesem Sommermärchen zu erzählen und mir die Tore ins Ohr zu brüllen; von der Stimmung, die Deutschland vereinte, stolz und glücklich machte… ich hätte nichts geahnt. Für die Deutschland-Spiele ging ich in Bars, um sie mir anzuschauen. Ich sah gute Spiele. Ich sah nicht, wie aus diesem Traum eines Tages einer der größten Fussballskandale der deutschen Geschichte werden würde. Im Mittelpunkt: Franz Beckenbauer, der uns nicht nur mit dem Sommermärchen aller Völker und Nationen, sondern auch mit einem neuen Selbstverständnis als Deutsche beschenkte.
1982 griff der Kaiser im Golfclub Hoisdorf zum ersten Mal zum Schläger und lernte schnell, dass der Golfball nicht so will wie der Fussball. In einem Interview mit der FAZ gestand er seine anfängliche Ungeduld: „Früher flog der Schläger schon mal hinterher.“ Ein erster Trainer namens Barry machte aus Schief Gerade.
Wer zwischen den Zeilen lesen kann, bekommt in diesem Interview Antworten, die Kaiser Franz den Gremien verweigerte, was wie von wem zu welchem Preis gekauft wurde. Warum er denkt, dass es wichtig ist, den Sport unter die Menschen zu bringen, den Fussball und auch das Golfen, und dass es doch möglich sein muss, die Finanzen dafür klar zu machen.
Und nun? Nun hat sich sein Himmel auf unumkehrbare Weise verdunkelt. Auf der Strecke blieb sein makelloser Ruf als Sportsmann, weil die kommenden WMs 2018 und 2022 in Russland und Katar offensichtlich gekauft sind. Was genau er damit zu tun hatte, bleibt unklar, weil er sich nicht wirklich äußert. Ob 2006, unser Sommermärchen in Deutschland, ebenfalls gekauft war, werden wir vielleicht nie wirklich erfahren. Und während immer mehr Menschen von ihm abrückten, starb sein Sohn Stephan an Krebs. „Es gibt nur eine Sache, die noch schlimmer ist, als Krebs zu kriegen“, sagt die 16-jährige Hazel in den Film Das Schicksal ist ein mieser Verräter. „Und das ist, wenn dein Kind Krebs kriegt.“ Und stirbt.
Ich versuche mir vorzustellen, wie es ist, wenn all die einstigen Freunde Antworten wollen, während du am Bett deines Sohnes sitzt, dessen Hirntumor nicht mehr geheilt werden kann. Ob irgendjemand ahnt, wie sehr sich die Achse der Wichtigkeit verschiebt im Angesicht einer solchen Tragödie… außer denen, die Ähnliches erlebt haben.
Das Ende des Himmels
Nach 25 Jahren hat er bei Sky vor zwei Monaten aufgehört, den Fussball zu moderieren. Auf dem Golfplatz in Bad Griesbach , den Beckenbauer zusammen mit Bernhard Langer entwickelte, haben gut betuchte Golfer im Laufe der Jahre siebenstellige Summen für seine Franz Beckenbauer Stiftung zusammen gespielt. Die Partnerseite liest sich wie ein Who is Who der deutschen Wichtigkeit. Gerade kamen wieder 570.000 Euro zusammen.
Von Steve Jobs sagen alle, die ihn kannten, dass er eine besondere Art hatte, die Realität nach seinen Wünschen zu verbiegen; dass er damit durch und davon kam, weil er am Ende der Welt etwas nie da gewesenes schenkte, das – wie wir heute sehen – einzigartig ist und nicht reproduzierbar. Es wird vermutlich zu unseren Lebzeiten kein zweites Sommermärchen geben. Die Olympiade, die hier nach 1972 wieder möglich gewesen wäre, ist über die Klinge des Fussballskandals und der Bedenkenträgerei gesprungen.
Ohne irgendetwas rechtfertigen zu wollen oder es auch nur zu können, bin ich dankbar für unser Sommermärchen 2006. Visionäre sind in der Regel immer auch Rebellen mit einem langen Schatten. Und ich hoffe, dass Franz Beckenbauer zur Feier des Tages einen guten Freund hat, mit dem er eine Runde Golf spielen kann, ein Weizenbier trinkt und deren Fazit ist: „Ihr könnt mich mal.“